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Es war einmal ein Löwe, der in einer ständig vom Wind durchwehten Wüste lebte; die Teiche und Flußläufe, aus denen er trank, waren niemals ruhig und glatt, denn der Wind kräuselte die Oberfläche, die deshalb niemals
etwas reflektierte.
Eines Tages wanderte der Löwe in einen Wald, wo er jagte und sich vergnügte, bis er sich müde und durstig fühlte. Auf der Suche nach Wasser fand er einen Teich mit dem kühisten, verlockendsten und
stillsten Wasser, das man sich vorstellen kann. Löwen können nämlich wie andere Wildtiere auch Wasser riechen, und der Geruch dieses Wassers übertraf alles, was er bisher gerochen hatte. Der Löwe näherte sich dem
Wasser und reckte seinen Schädel, um zu saufen. Plötzlich sah er sein Spiegelbild im Wasser - und hielt es für einen anderen Löwen.
»O Mann«, dachte er bei sich selbst, »das Wassser gehört wohl einem anderen Löwen - Vorsicht ist angebracht«. Er zog sich zurück, aber der Durst trieb ihn wieder zum Wasser, und ein zweites Mal sah er den
Kopf eines furchterregenden Löwen, der ihn aus dem Wasser anblickte. Diesmal hoffte der Löwe, er könnte den “anderen Löwen” verscheuchen; und so riß er sein Maul auf und ließ ein gewaltiges Gebrüll erschallen. Aber
kaum hatte er seine Zähne gefletscht, als der “andere Löwe” natürlich ebenfalls seinen Rachen aufriß, und das schien unserem Löwen ein schrecklicher und gefährlicher Anblick zu sein. Ein ums andere Mal scheute der
Löwe zurück und näherte sich dann wieder dem Teich. Und ein ums andere Mal machte er dieselbe Erfahrung.
Nach einer langen Zeit war er jedoch so durstig geworden und verzweifelt, daß er beschloß: »Löwe hin, Löwe her - ich werde jetzt von diesem Teich trinken«. Und wahrlich, kaum hatte er sein Gesicht ins
Wasser getaucht, als der “andere Löwe” verschwand!
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