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Pandas grosse Entdeckung

«Hoch oben in den Bergen sind die Winter lang und kalt. Auch im Sommer dringt nur wenig Sonne durch den dichten Bambuswald. Hier lebte ein Panda. Ein junger Panda. Und wie alle Pandas lebte er allein. Manchmal wanderte er den Berg hinunter und fand Honig und wilde süße Blumen. Eines Tages kam Panda zu einem verlassenen Campingplatz. Leere Konservendosen lagen herum, die die Menschen weggeworfen hatten. Panda spiegelte sich in den blitzenden Dosen. Dann entdeckte er Bilder darauf. Bilder von Schiffen und Städten und Landschaften. So etwas hatte er noch nie gesehen.

«Es muss noch etwas anderes auf der Welt geben«, dachte er, »als nur diese Berge und diesen Wald und die Spaziergänge den Berg hinunter!« Auf der schönsten Dose sah er zwei große Bären zwischen riesenhohen Häusern, ein schwarzer Bär und ein weißer Bär, und Panda fragte sich: «Bin ich nun ein weißer Bär mit schwarzen Flecken oder ein schwarzer Bär mit weißen Flecken?«

Er nahm die Dosen unter den Arm, und statt in seinen Wald zurückzukehren, folgte er den Spuren der Reisenden hinab in das warme, weite Land. Bald stand er vor einem großen Haus, aus dem die allerschönste Musik kam. In dem Haus waren viele Musikanten und Sänger. Auf einem hohen Kissenberg saß ein alter Mann. Panda ging auf ihn zu und sagte: Ich suche die Stadt mit den riesenhohen Häusern und den zwei großen Bären.« Der alte Mann nickte Panda freundlich zu. Er antwortete nicht Er sagte: Möchtest du Trommel spielen oder Trompete?« «Ich weiß nicht«, sagte Panda. «Fühlst du dich wie ein Trommler oder wie ein Trompeter?« fragte der alte Mann. «Ich weiß es nicht. Ich weiß nicht einmal, ob ich ein weißer Bär mit schwarzen Flecken oder ein schwarzer Bär mit weißen Flecken bin.« «Wenn du nicht weißt, wer du bist, wie kannst du dich je entscheiden?« «Wenn ich das nur wüsste«, seufzte Panda.

Traurig winkte er den Musikanten und ging hinaus in die Sonne. Panda wanderte weiter. Er summte vor sich hin. Musik hatte er gern, das wusste er. Aber welches Instrument sollte er spielen? Panda sah auf seine Konservendosensammiung. Zwei größere Dosen waren eigentlich ganz gute Trommeln. Deckel konnte er als Schlagzeug verwenden. Aus kleinen Dosen machte er Glocken, eine bog er zu einem Horn. Panda nahm ein paar Efeuranken, band seine Instrumente fest um Bauch und Beine und marschierte weiter. Als der kleine Bergweg in die große belebte Straße mündete, konnte er schon gut auf seinen Instrumenten spielen.

»Ich suche die Stadt mit den riesengroßen Häusern und den zwei großen Bären«, rief Panda einem Mann zu, der auf einem Wagen saß, vor den ein Kamel gespannt war. »Jaa«, sagte der Mann, «ich kenne eine Stadt mit riesengroßen Häusern, du kannst gern mitfahren. Aber Bären habe ich dort nicht gesehen.« »Auch ich habe dort keine Bären gesehen«, sagte das Kamel. «Ich tue nur meine Arbeit. Immer ein Bein vor das andere. Das kann ich. Dafür werde ich gefüttert. Ich bin zufrieden.« Allmählich kamen sie in die Stadt. Überall rannten Leute herum und überall war ein Riesenlärm. «Phantastisch!« dachte Panda. »Es muss also noch etwas anderes im Leben geben, als nur einen Fuß vor den anderen zu setzen:« Panda spielte seine Melodien und wanderte durch die Stadt. Auf einmal stand er vor einem großen, mächtig dahinfließenen Fluss.

»Ich suche eine Stadt mit  riesengroßen Häusern und den zwei großen Bären«, rief er einem Mann auf einem vorbeifahrenden Boot zu. »Dann musst du den Fluss hinunterfahren«, rief der Mann zurück, »der Fluss fließt ins Meer, und das Meer bringt dich überall hin.« »Großartig!« dachte Panda. Er baute sich ein Boot und folgte den Delphinen, die auf die untergehende Sonne zuschwammen. Auf den Rücken fliegender Fische leuchteten die Sterne. Lange bevor Land in Sicht war, roch Panda Blumen und süße Früchte. Wie alle Seefahrer meldete er sich zuerst beim Zoll. Oben auf der Treppe lag eine Eidechse. »Das hier ist mein Platz«, sagte sie zu Panda, »von hier aus kann ich alle überwachen. Ich blicke auch auf dieses stolze Hähnchen da unten herab.« »Das nützt dir gar nichts«, krähte das stolze Hähnchen, »da oben der Kirchturmhahn blickt Tag und Nacht auf dich fette Eidechse herab.« Panda hörte erstaunt zu. »Ist ein schwarzer Bär mehr wert als ein weißer Bär?« fragte er sich, »Es muss im Leben doch mehr geben, als auf andere herabzublicken.«

Panda setzte sich in sein Boot und segelte weiter. Viele Monate segelte er um die Welt. Alle fragte er. »Denk nicht so viel nach«, sagte der Leopard. »Du kannst dein Fell doch nicht ändern.« »Ssssssso?« zischte die Schlange. »Ich kann meine ganze Haut wechseln!« »Einige von uns sind eben etwas Besseres«, sagte die Kuh mit blumenweicher Stimme. »Nichts bleibt, wie es ist«, sagte das Chamäleon und begann sich zu färben, gelb wie der Wüstensand, grün wie die Oase und rot wie die Sphinx. »Arbeiten ist das Wichtigste im Leben«, sagte der Wasserbüffel. »Aber lebe nicht, um zu arbeiten. Das Schönste an der Arbeit ist aufzuhören. Den ganzen Tag freue ich mich auf mein Schlammbad am Abend. Dafür lebe ich. Und der Junge auf meinem Rücken? Der lebt, damit er träumen kann. Und er träumt, dass er jeden Tag ein wenig größer wird.«

Panda war verwirrt und ratlos. Nach all dem, was er gehört hatte, wusste er nicht mehr, wie er seine Gedanken ordnen sollte. Endlich tauchten am Horizont die riesenhohen Häuser auf die er zum erstenmal auf der Konservendose gesehen hatte. Nun werde ich sicher auch die zwei großen Bären finden«, rief Panda, und er rannte durch die Stadt, vom Zollbüro zum Rathaus und vom Rathaus ins Fremdenverkehrsamt. Aber niemand konnte ihm sagen, ob er schwarz war mit weißen Flecken oder weiß mit schwarzen Flecken. Er ging in die Zentralbibliothek, wo es viele tausend Bücher gab, in denen alles stand, was je in der Welt vorgefallen war. Aber weil Panda Lärm machte, warf man ihn sofort hinaus. Traurig verließ Panda die Stadt und segelte weiter. Er wusste jetzt, die zwei großen Bären ihm nichts zu sagen hatten.

Von jedem hatte er etwas anderes gehört. Warum? Weil jeder anders war? Panda fühlte sich nun glücklicher. Und als er wieder an das große Haus mit der allerschönsten Musik kam, fragte ihn der Alte Mann: »Weißt du nun, wer du bist?« Ja«, sagte Panda, »ich bin ein Reisender, der Musik macht.« »Wie der Wind«, sagte der alte Mann, »auch der Wind ist ein Reisender, der Musik macht. Aber bist du nun ein schwarzer Bär oder bist du ein weißer Bär?« »Das eine ist so gut wie das andere«, sagte Panda, und er lachte. »Eine große Entdeckung!« sagte der alte Mann und sah Panda freundlich an. Panda zog davon. Seine Musik klang fröhlich. lind jeder kann sie hören.«

von Michael Foreman

 

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