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Im Schatten der Macht

Es ist Frühling. Sie sitzen auf einer Parkbank und genießen den Morgen mit den ersten Sonnenstrahlen. Mit geschlossenen Augen genießen Sie die Sonne. Ein schöner Tag. Und Sie träumen so vor sich hin. Plötzlich ein Schatten: Sie spüren die kühle Luft, öffnen die Augen und sehen, wie da jemand zwischen Ihnen und der Sonne steht. Da steht ein Herr vor Ihnen in feinem Anzug und Kravatte mit grauen Schläfen und vertrauenerheischender Selbstsicherheit. Sie lächeln und sagen: "Guten Morgen!"

"Guten Morgen", sagt er und rührt sich nicht vom Fleck. Gegen die Helligkeit des Himmels können Sie sein Gesicht nicht erkennen. "Er merkt wahrscheinlich gar nicht, daß er mir die Sonne wegnimmt", sagen Sie sich.
"Entschuldigen Sie bitte, aber Sie nehmen mir die Sonne."
"Ja, ich weiß", antwortet er.

Sie sind verwirrt und schauen genauer hin. Er macht den Ausdruck freundlicher Entschlossenheit. Auf einen Streit hat er es wohl nicht angelegt. Sie rutschen auf Ihrer Bank zur Seite wieder ins Sonnenlicht und erkennen seine Augen: Er betrachtet Sie mit gelassenem Interesse. Dann macht er seinerseits einen Schritt zur Seite, und wieder sitzen Sie im Schatten. Ihre Verwirrung wächst, und Sie fragen sich: "Warum macht er das?"

Natürlich denken Sie, daß er einen guten Grund für all dies hat und daß Sie nur noch nicht dahintergekommen sind. Auch möchten Sie diesen nett aussehenden Herrn nicht verletzen. Überhaupt möchten Sie Streit vermeiden. Doch trotz seines freundlichen Äußeren fürchten Sie sich ein wenig. Irgend etwas stimmt nicht. Wahrscheinlich übertreiben Sie, und schließlich steht er ja nur in dem bißchen Sonne. Wieder schließen Sie die Augen, aber das Unwohlsein bleibt. Mit bewußt ruhiger Stimme fragen Sie ihn kurz darauf: "Warum stellen Sie sich vor mich in die Sonne?"

Er nickt und antwortet mit ernster Stimme: "Ich bin froh, daß Sie diese Frage stellen. Mein Tun ist von größter Wichtigkeit. Außerdem - wenn Sie gestatten - ist noch eine weitere Maßnahme vorgesehen." Und dann macht er ein paar Schritte auf Sie zu und stellt sich mit seinem Absatz auf Ihren großen Zeh. Erschrocken fahren Sie zusammen; das kann er nicht so gemeint haben. Sie unterdrücken einen Schmerzenslaut: "Sie stehen auf meinem Zeh!"
"Ja, das weiß ich", antwortet er.
"Warum denn?" verhandeln Sie nun und unterdrücken Ihre Erregung.
Wieder ist seine Stimme ernst und fest, und er sagt: "Wahrscheinlich werden Sie mir nicht glauben, wenn ich Ihnen sage, daß ich aus einem Grund auf Ihrem Zeh stehe, den Sie gar nicht begreifen können. Aber immerhin kann ich Ihnen sagen, daß es für die Gesundung unserer Wirtschaft von höchster Bedeutung ist. Ohne dies geriete unser Land in eine ungeheure Energiekrise. Ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie jeglichen Protest unterlassen. Jedermann richtet sich danach. Gegen unsere Bemühungen zum Schutze der Sicherheit unserer Wirtschaft können wir keinerlei Widerstand hinnehmen."

Der Herr scheint es ernst zu meinen. Er wirkt ebenso seriös wie geheimnisvoll. Und sind Sie nicht ein guter Patriot? Von Inflation und Energiekrise haben Sie schon gehört, obwohl Sie von den komplizierten Zusammenhängen in der Wirtschaft nicht viel verstehen. Genaugenommen halten Sie sich für völlig inkompetent. Eigentlich möchten Sie jetzt nachfragen, aber Ihre Furcht, als Ignorant dazustehen, ist größer.

Der Herr sieht gebildet aus. Nach seinem Verhalten und seiner Kleidung zu urteilen, ist er ein Erfolgsmensch - vielleicht ein erfolgreicher Geschäftsmann oder Hochschullehrer. "Hättest du dein Studium nicht abgebrochen, dann wärest du jetzt besser dran", denken Sie. Und: "Du warst schon immer zu bequem. Schau doch, - wie ein Penner drückst du dich auf der Parkbank rum ..., also reiß' dich endlich mal zusammen, so weh tut es auch nicht. Mit ein bißchen gutem Willen läßt sich das schon aushalten.

Der Herr scheint erfreut: "Ihr Verhalten ist mustergültig; da sieht man, was ein gutes Elternhaus ausmacht. Unser Land verdankt Menschen wie ihnen viel. Ihre Kinder können stolz auf Sie sein.
Allmählich gewöhnen Sie sich an den Schmerz. Jetzt schauen Sie sich um und sehen, wieviele andere Leute in der gleichen Situation sind. Überall stehen die netten, feinen Herrn in ihren Anzügen den Leuten auf den Füßen. Alle lächeln oder versuchen es zumindest - es ist wirklich auszuhalten. "So ist es richtig, nur keinen Ärger machen", denken Sie und fühlen sich schon wohler. Sie genießen das Wohlwollen dieses feinen Herren und wissen, daß Sie mit Ihrem Bürgersinn der Gemeinschaft dienen.

Weiter hinten im Park sind ein paar Leute zu sehen, wie sie gegen das Auf-die-Füße-Treten protestieren. Sie haben die feinen Herren beiseite gestoßen, und nun laufen sie durch die Straßen und rufen: "Weg von unseren Füßen!"

Sie sind empört. Sogar Kinder und Jugendliche sind unter den Demonstranten! Nun verführen sie auch schon die Jugend! Warum machen sie nicht mit? Wie können sie es nur wagen, die Zukunft unserer Energieversorgung und die wirtschaftliche Wende unseres Landes in Frage zu stellen? Aber zum Glück kommt da schon die Polizei, löst die Demonstration auf und verhaftet ein paar Rädelsführer. Es gibt also noch Gerechtigkeit.

aus Claude Steiner: Macht ohne Ausbeutung

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